Montag, 17. August 2009

Schon lange Zeit sitze ich vor dem Computer und überlege wie ich für Aussenstehende meine neue Arbeit am besten beschreiben kann. Für mich sind während der Zeit in Brasilien Dinge zum Alltag geworden, die für viele Menschen unvorstellbar sind. Unvorstellbar ist natürlich falsch, aber doch schwer zu verstehen. Ich kann dass gut nachvollziehen....

Als der 10-jährige Basti mit seinen Freunden über Tische und Bänke hüpft, betritt der Pfarrer, der Ober-Olmer Gemeinde, den Klassensaal und bittet um Ruhe. Eine grosse Tüte in der Hand haltend, schafft es der Pfarrer, der gleichzeitig Religionslehrer ist, die Viertklässler zu beruhigen. Der Inhalt der Tüte gehört zur MISEREOR-Fastenaktion. Es sind Bastelbögen für einen gelben Rucksack. Während die Kinder friedlich mit dem Basteln von Rucky, dem reiselustigen Rucksack, beschäftigt sind, liest der Religionslehrer eine Geschichte vor. Die Geschichte, die ich vergelblich im Internet gesucht habe, handelt von Strassenkindern in Südamerika. Die Vertklässler sind traurig, dass es Kinder, in ihrem Alter, gibt, die ohne Eltern auf der Strasse leben. Doch so wirklich verstehen können der kleine Basti und seine Freunde es nicht. Es klingt wie ein trauriges Märchen, das der Religionslehrer als Realität darstellt. Aber ein Detail entging den Ohren, der Jungs aus der vierten Klasse, nicht. Die Kinder, von denen die vorgelesene Geschichte handelt, sind dermaßen arm, dass sie ohne Schuhe auf der Strasse Fussball spielen. Also beginnen der kleine Basti und seine Freunde Geld in dem kleinen, gelben, selbstgebastelten Rucksack zu sammeln. Dieses Geld soll genutzt werden, um den Strassenkindern einen Bauchladen oder eine Kiste mit Schuhputzutensilien zu kaufen....

Dieser kleine Basti ist gewachsen und hat während seines weiteren Lebens immer mehr über Strassenkinder und ähnliche Missstände erfahren. Er hat Geschichten gelesen, Fernsehreportagen und Fotos gesehen und hat gemerkt, dass es kein Märchen ist, sondern bittere Realität. Doch diese Strassenkinder waren immer so weit entfernt, irgendwo auf der Welt.....
Heute sind diese Kinder für Basti viel präsenter und das nicht nur, weil er sie mit eigenen Augen gesehen hat. Die Touristen, die an der Copacabana den Bauch in die Sonne halten, haben diese Kinder auch gesehen und mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit auch ein Foto geschossen, das sie mit nach Hause nehmen und ihren Freunden zeigen. Basti arbeitet jetzt drei Tage der Woche in Casa Rafael in Lapa, nah am Centrum von Rio de Janeiro. Dieses Haus bietet Strassenkindern vormittags einen Ort, an dem sie duschen und essen können. Ausserdem gibt es auch Aktivitäten wie tanzen, Capoeira, PercussAO und Basteln. Doch ein wichtiger Teil der Arbeit ist die „Abordagem da rua“. Dort werden die Strassenkinder an ihren Schlafplätzen aufgesucht, um mit ihnen zu reden und sie zu Casa Rafael einzuladen. Das wichtigste an der Strassenarbeit ist die Präsenz. Das man täglich die Kinder aufsucht und ein wenig mit ihnen redet. So merken sie, dass sich jemand für sie interessiert und dass sie nicht alleine sind. Denn man ist sich einig, dass die Kinder auf der Strasse leben, weil sie nicht geliebt werden. Niemand tauscht eine intakte Familie gegen das Leben auf der Strasse ein....

Ich hoffe, dass ich ein wenig meiner neuen Arbeit vermitteln konnte. Die Spendengeschichte fiel mir gestern ein, als ich mit 3 Jungs, die mit ihren Schuhputzkästen ankamen, Karten gespielt habe. Diese Jungs kommen aber, wie die meisten der Engraxates( Schuhputzer), aus den Favalas und haben Familie. Strassenkinder kommen anders an Geld...
Mir macht die neue Arbeit viel Spaß, aber ich bin auch froh, dass ich erst jetzt am Ende dort arbeite, denn man sieht schon viele Dinge, die schwer zu verarbeiten sind. Mit den Sachen, die man sieht, und Geschichten, die man hört, könnte ich Seitenweise den Blog füllen.
Es gibt aber auch schöne Seiten. Gestern habe ich einer Mutter geholfen ihren Sohn zu finden. Diese Mutter war total traurig ihren Sohn an diesem Platz aufzufinden. Der elf Jahre alte Breno ist, laut Aussage seiner Mutter, bereits 20 Tage auf der Strasse. Es berührte sie sehr ihn zwischen den ganzen, sich gerade mit Kleber zudröhnenden Strassenkindern zu sehen. Sie würde ihren Sohn gerne in einem Heim sehen, doch im anschliessenden Gespräch mit Cicero, dem Verantwortlichen des Hauses in Lapa, überlegte sie sich von ihrem Freund zu trennen, der den Sohn schlecht behandelt hat. Sie sagte ihr sei der Sohn wichtiger als der Freund. Ich bin gespannt, ob es klappt.....

Samstag und Sonntag verbringe ich nun wieder in Casa Angelo, worüber ich sehr froh bin. Ich weiß nicht wann ich das letzte mal Casa Angelo in meinem Blog erwähnt habe, aber seitdem hat sich viel verändert. Dort im Haus waren 15 Jungs, jetzt sind es noch 6. Es waren schwere Zeiten....Durch ständigen Wechsel der Sozialeltern haben die Kinder Probleme gehabt. Kaum hatten sie sich an ein Elternteil gewöhnt wurde schon wieder gewechselt. Es endete im Chaos....Die Kinder machten was sie wollten. Sie fluchten, schimpften, kämpften, klauten und das ganze auch noch in der Nachbarschaft. Die Nachbarn fingen an sich zu beschweren und Drohungen auszustoßen, die Kinder fingen an abzuhauen und die Sozialeltern wechselten weiter und auch ich wurde aus dem Haus gezogen um im Kindergarten zu arbeiten. Schon nach kurzer Zeit waren es nur noch 10 Jungs im Haus (Douglas, Ruan, Paulinho, Leonardo, Jean, Lukas, Leozinho, Romario, Jefferson und Felipe) Dies sind die Jungs, die schon länger bei Casa do Menor und nicht so schnell auf die Idee kamen abzuhauen. Doch die Lage verschlimmert sich und jedesmal wenn ich zum Besuch vorbeiging fehlte ein weiteres Gesicht:
Jean wohnt jetzt bei seiner Tante in einer Favela in der Nähe von Lapa.
Leozinho und Romario sind in ein anderes Heim in Nova IguaCu versetzt worden, weil ihr Bruder(Luiz-Claudio) es nicht mehr in Casa Angelo aushielt und dort Zuflucht gesucht hatte. Aber den drei Jungs geht es gut, ich habe sie letztes Wochenende in dem Heim besucht.
Jefferson und Felipe sind gemeinsam durch das Fenster in einen Bus nach Rio geklettert und abgehauen. Felipe, der jetzt auf der Strasse wohnt, habe ich letztens in Rio getroffen und habe erfahren, dass wenigstens Jefferson nach Hause gegangen sei. Felipe hat die Möglichkeit nach Casa Angelo zurückzukehren, möchte aber lieber auf der Strasse bleiben, weil man in Casa Angelo nicht rauchen darf.
Zu guter Letzt ist auch noch Lukas abgehauen. Er war mit Abstand einer der schwierigsten Jungens dort, aber mir sehr ans Herz gewachsen. Er war es der mir am Anfang Portugiesisch beigebracht hat und mir alles gezeigt hat. Da er nicht bei seinem Onkel wohnen darf, der ganz in der Nähe wohnt, gehe ich davon aus dass er in die Favela zurückgekehrt ist. Er war, bevor er nach Casa Angelo kam, in dem Drogengeschäft der Favela verwickelt. Er erzählte, dass er mit einem Gewehr und einer Warnrakete auf die Favela aufgepasst hat. Wenn die Polizei kam hat er die Warnrakete gezündet und den anderen geholfen die Favela zu verteidigen....Deshalb fällt es mir bei ihm am schwersten zu wissen, dass er nicht mehr in Casa Angelo wohnt....

Es sind noch Paulinho, Ruan, Douglas und Leonardo geblieben. Dazu kommen noch Luiz-Carlos und Gilberto, die neu gekommen sind. Ausserdem ist jetzt bereits seit einem Monat eine neue Mae social in Casa Angelo und die Situation hat sich komplett geändert. In Casa Angelo wird momentan wieder das Prinzip von Casa do Menor gelebt: Die Häuser sollen kein Heim sein, sondern eine Familie. Es tut mir echt gut zu sehen, wie sich die Situation verbessert hat. Kein klauen, kein fluchen, kein schlagen.....Es scheint alles wie neu und es macht richtig Spaß dort wieder zu arbeiten.

Entschuldigt bitte die fehlenden Fotos in diesem Blog... Die letztens Blogs handelten immer nur von Ausflügen, aber jetzt habe ich hoffentlich alle auf den aktuellen Stand meiner Arbeit gebracht. Carl wird mich bereits am Dienstag verlassen und nach Deutschland zurückkehren. Das wird sicher schwer ohne ihn hier. Ich möchte ihm einen guten Heimflug wünschen, ich komme bald nach.......
Basti